Der Mensch
ist dazu verurteilt,
frei zu sein.


Ein Beispiel: Zum Demokratieverständnis


Die richtigen Worte und Gedanken. Die, die uns weiterbringen. Das ist nicht so leicht ...
Die Philosophie ist immer eine Herausforderung.
In vielen Ländern der Erde gibt die Möglichkeit nicht, einfach so sich zur politischen Situation zu äußern. Dort geht man in den Wald oder in die Wüste und schreit seine Argumente in den Wind.

Wenn man die Chance hat, reflektiert und mit Argumenten seine Meinungen mit Mitmenschen diskutieren zu können, soll man das engagiert tun.

 

Wählen gehen genügt?

Der Text von Angela Kallhof

    8. Oktober 2024

    Der Standard: Kommentar der anderen

    Angela Kallhoff, Professorin für Ethik an der Uni Wien, geht in ihrem Gastkommentar der Frage nach, warum so viele Demokratie ausschließlich an freien Wahlen festmachen.
    Was Demokratie ausmacht: Wählen gehen ist zu wenig Wahlen sind nicht das Herzstück der Demokratie. Wer das glaubt, der greift zu kurz. Die Menschen müssen sie als aktive politische Lebensform begreifen. Sonst wird noch mehr der Frust die Wahlentscheidung beherrschen In der politischen Philosophie wird seit der Antike darüber gestritten, was Demokratie eigentlich ist. Fest steht, dass die Demokratie eine Staats- und Regierungsform ist, in welcher das Volk ("demos") das Sagen hat. In der Demokratie geht der Wille vom Volk aus, das Volk ist der eigentliche Souverän. Und wichtig ist auch, dass die Demokratie zu den "guten Verfassungen" zählt. Demokratie unterscheidet sich von den schlechten Verfassungen: der Gewaltherrschaft und Despotie einerseits und der Herrschaft einiger weniger andererseits – in der Aristokratie ist dies der Adel, in der Oligarchie sind es die korrupten Eliten und in der Plutokratie die Reichen.

    Was jedoch leicht übersehen wird, ist der Umstand, dass Wahlen nicht das Herzstück der Demokratie sind. Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, dass dem so sei: Demokratie wird mit freien Wahlen identifiziert. Diese Annahme ist nicht nur falsch, sondern verleitet auch zu einer Einschätzung der Bedeutung von Wahlen, die nicht angemessen ist.

    Herzstück der Demokratie ist eine Verfassungswirklichkeit, die jede Bürgerin und jeden Bürger – wie der Philosoph Ronald Dworkin es einst formulierte – mit gleichem Respekt und gleichem Anstand behandelt. Jede Person ist in der Demokratie vor dem Gesetz gleich und rechtswirksam geschützt. Demokratien haben zudem eine institutionelle Wirklichkeit, in welcher nicht nur das Prinzip der Gewaltenteilung fundamental ist: die wirksame Trennung von Gesetzgebung durch ein unabhängiges Parlament (Legislative), von ausführender Gewalt (Exekutive) und von einer durch unabhängige Instanzen geschützten Rechtsprechung (Judikative); vielmehr muss auch die politische Kultur demokratisch sein. Und selbst dies genügt noch nicht, um die Demokratie zu beschreiben. In der Demokratie tun Bürgerinnen und Bürger vor allem eines: Sie beschäftigen sich mit gravierenden politischen Themen und Themen allgemeinen Interesses in argumentativer, informierter und dialogischer Weise, um die besten politischen Lösungen zu finden – heute wären solche Themen unter anderem die neue Sicherheitslage und der Klimawandel. Rechtssicherheit und Gleichheit, institutioneller Schutz vor Machtkonzentration sowie demokratische Praxis sind die Herzstücke der Demokratie.

    "Das Schicksal von Demokratien vollständig an Wahlen zu binden wäre nicht nur leichtfertig, sondern würde auch der Architektonik und Verfassungswirklichkeit von Demokratien widersprechen."

    Wie kommen wir dann aber nur darauf, die Demokratie an freien Wahlen festzumachen? Dahinter steht die gute Idee, dass Regierungen nur so viel politische Macht beanspruchen dürfen, wie ihnen die Wählenden zugesprochen haben. In repräsentativen Demokratien wird die Macht in der Wahl den Parteien übertragen; gebunden ist das Handeln der Vertreterinnen und Vertreter der Parteien dann nicht mehr allein an die Verfassung, sondern auch an das Mandat der Bürgerinnen und Bürger, das jeweilige Wahlprogramm zu verwirklichen. Wahlen haben sich bewährt für diesen Teilaspekt der Demokratie – die Bindung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier wie auch der Regierung an Wahlprogramme und die Übertragung der Stimme des Volkes durch den Urnengang.

    Viele Tücken

    Dieser unverzichtbare Aspekt der Demokratie hat jedoch seine Tücken; und genau diese werden schon lange und mit neuem Gesicht in der aktuellen Auseinandersetzung um die Demokratie sehr gut aufgezeigt. Drei dieser Tücken sollen hier zu bedenken gegeben werden. Wenn die Demokratie nicht mehr als aktive politische Lebensform erfahren wird, sondern Frustration, Langeweile und Desillusionierung den Ton angeben – mit Argumenten wie: In der Politik haben ohnehin nur noch mächtige Interessengruppen das Sagen; globale Märkte und Finanzen treiben die Politikerinnen und Politiker vor sich her und haben sich längst gegen die kleinen Leute verschworen –, also in Zeiten der "Postdemokratie", dient die Urne nur mehr dazu, den Frust über diese Situation zu dokumentieren. Zweitens müssen wir die Lektion verstehen aus den Untersuchungen darüber, "Wie Demokratien sterben" (Politikwissenschafter Steven Levitsky). Nicht erst im Stadium des Abbaus von Justiz und freien Medien, sondern schon durch den Verlust des Vertrauensvorschusses an die Politik und des konstruktiv fairen Verhaltens der Bürgerinnen und Bürger kann die Demokratie ihren zentralen Wirkmechanismus nicht mehr aufrechterhalten: Vom Volke für das Volk zu regieren setzt eine Wertbindung an das Prinzip der gleichen Rechte aller und einer grundlegenden Fairness voraus, die wenigstens von der aktiven Mehrheit unterstützt und gelebt werden müssen. Alles in der Demokratie lebt von dieser Fairness und Konstruktivität, so auch Wahlen. Drittens wissen wir heute mehr denn je um die Manipulierbarkeit des Menschen. In ihrer großartigen Studie über die Rolle von Emotionen im öffentlichen Raum konnte die Soziologin Eva Illouz (Undemokratische Emotionen, Suhrkamp) soeben detailgetreu nachzeichnen, wie leicht es ist, Ängste und Ressentiments zu schüren und destruktive Narrative gezielt in Volkes Wille zu verankern.

    Wichtiges Element

    Sollten wir also vielleicht Wahlen überhaupt abschaffen, um uns vor diesen Problemen zu schützen? Auch wenn diese Option und der Ersatz von Wahlen durch andere partizipatorische Verfahren inzwischen in der Wissenschaft gut argumentiert wurden, gilt hier dasselbe wie für die Demokratie insgesamt: Wahlen sind die beste der nicht perfekten Optionen, die Politik an die Stimme des Volkes zu binden und damit ein wichtiges Element der Volkssouveränität zu verwirklichen. Wir haben aktuell keine ähnlich bewährten Verfahren. Aber das Schicksal von Demokratien vollständig an Wahlen zu binden wäre nicht nur leichtfertig, sondern würde auch der Architektonik und Verfassungswirklichkeit von Demokratien widersprechen. Demokratien sind so viel mehr als Wahlen; und wir haben so viele wichtige Güter zu schützen, deren Vorrang jede Wahlentscheidung zwangsläufig an ihren ohnehin etwas bescheideneren Platz setzen muss.

    Angela Kallhoff, 8.10.2024
    homepage.univie.ac.at/angela.kallhoff


Letzte Aktualisierung dieser Seite: 26.10.2024

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