es zirpt und raschelt

es plätschert es zirpt es raschelt es knirscht

es lauscht es weht es wispert es verstummt
es trippelt es kichert es flüstert es huscht
es wundert es lockt es zögert es ruft
es verwirrt es erfreut es irrt es friert
es zittert es kitzelt es reizt es berührt
es seufzt es lässt es täuscht es küsst
es genießt es verführt es wird belauscht
es lacht es wird überrascht es entwischt
es flüchtet es fröstelt es wird gesucht
es wartet es ermüdet es zweifelt es knackt
es rieselt es denkt es entdeckt es verwechselt
es schaudert es rauscht es hört auf Zehenspitzen
es geht es weiter es schweigt es lässt nach
es verlässt es zwitschert es dämmert

Sandro Huber in: manuskripte 241/2023

Verluste

Verluste der ukrainischen Streitkräfte

Die Verlustzahlen unserer Armee werden geheim gehalten
Bis zum Ende des Krieges wird es keine Zahlen geben.

Es wird jener Nachbar sein,
dessen merkwürdige Frau rote Blumen setzte
Der Freund, der ohne Vorwarnung ging
Der Unidozent, den wir alle so gern hatten
Das junge Mädchen, das alle nur nervte
Der Künstler, den alle mochten
und der jenes Mädchen scheinbar verehrte.

Im Namen der Staatssicherheit
schwöre ich, dass ich die Gefallenen nicht zählen werde
Ich werde sie bis ich nicht mehr kann zählen
und bis zum Ende des Krieges

In Wahrheit zählte ich zuerst, verzählte mich aber.

Wiktorija Amelina

Nachts

Ich wandre durch die stille Nacht,
Da schleicht der Mond so heimlich sacht
Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
Und hin und her im Tal
Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille.

O wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen -
Wirrst die Gedanken mir,
Mein irres Singen hier
Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

(Joseph von Eichendorff)

Der Krieg

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

Ingeborg Bachmann, 1952

Es herrscht immer noch Krieg … – Zum Nachdenken an den Bachmann-Preis 2023

Sei ohne Sorge

Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

eintritt

1956
aus: Ingeborg Bachmann: Werke Bd. 1, hrsg. von Christine Koschel u.a., PiperVerlag, München 1978

Eine Aufgabe

Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigte, äussere Schwierigkeiten oder innere Beschwerden zu überwinden, – als: das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben.

Viktor Frankl

Herbst

Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
Das geht in Ruh und Schweigen unter.

Georg Trakl

Die gestundete Zeit

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann